Sonntag, 22. Dezember 2013

Das weiße Kaninchen oder: Was wir brauchen, um ein guter Philosoph zu werden

Habe ich schon gesagt, daß die Fähigkeit uns zu wundern, das einzige ist, was wir brauchen, um gute Philosophen zu werden? Wenn nicht, dann sage ich das jetzt: DIE FÄHIGKEIT UNS ZU WUNDERN, IST DAS EINZIGE, WAS WIR BRAUCHEN, UM GUTE PHILOSOPHEN ZU WERDEN. Alle kleinen Kinder haben diese Fähigkeit, das ist ja wohl klar. Nach wenigen Monaten werden sie in eine nagelneue Wirklichkeit geschubst. Aber wenn sie heranwachsen, scheint diese Fähigkeit abzunehmen. Woher kann das kommen? Also: Wenn ein kleines Baby reden könnte, würde es sicher erzählen, in was für eine seltsame Welt es gekommen ist. Denn obwohl das Kind nicht sprechen kann, sehen wir, wie es um sich zeigt und neugierig die Gegenstände im Zimmer anfaßt. Wenn die ersten Wörter kommen, bleibt das Kind jedes mal stehen, wenn es einen Hund sieht und ruft: "Wau-wau!" Wir sehen, wie es in der Kinderkarre auf- und abhüpft und mit den Armen herumfuchtelt: "Wauwau! Wauwau!" Wir, die schon ein paar Jahre hinter uns haben, fühlen uns von der Begeisterung des Kindes vielleicht ein wenig überfordert. "Ja, ja, das ist ein Wauwau!" sagen wir welterfahren, "aber setz dich jetzt schön wieder hin." Wir sind nicht so begeistert. Wir haben schon früher Hunde gesehen. Vielleicht wiederholt sich diese wüste Szene einige hundert Male, bis das Kind an einem Hund vorbeikommen kann, ohne außer sich zu geraten. Oder an einem Elefanten oder einem Nilpferd. Aber lange bevor das Kind richtig sprechen lernt - oder lange bevor es philosophisch denken lernt - ist die Welt ihm zur Gewohnheit geworden. Schade, wenn du mich fragst. Es geht mir darum, daß du zu denen gehörst die die Welt für selbstverständlich halten, liebe Sofie. [...] Anscheinend verlieren wir im Laufe unserer Kindheit die Fähigkeit uns über die Welt zu wundern. Aber dadurch verlieren wir etwas Wesentliches - etwas, das die Philosophen wieder zum Leben erwecken wollen. Denn irgendwo in uns sagt uns etwas, daß das Leben ein großes Rätsel ist. Das haben wir erlebt, lange bevor wir gelernt haben, es zu denken. [...] Kurze Zusammenfassung: Ein weißes Kaninchen wird aus einem leeren Zylinder gezogen. Weil es ein sehr großes Kaninchen ist, nimmt dieser Trick viele Milliarden Jahre in Anspruch. An der Spitze der dünnen Haare werden alle Menschenkinder geboren. Deshalb können sie über die unmögliche Zauberkunst staunen. Aber wenn sie älter werden, kriechen sie immer tiefer in den Kaninchenpelz. Und da bleiben sie. da unten ist es so gemütlich, daß sie nie mehr wagen, an den dünnen Haaren im Fell wieder nach oben zu klettern. Nur die Philosophen wagen sich auf die gefährliche Reise zu den äußersten Grenzen von Sprache und Dasein. Einige von ihnen gehen unterwegs verloren, aber andere klammern sich an den Kaninchenhaaren fest und rufen den Menschen zu, die tief unten im weichen Fell sitzen und sich mit Speis und Trank den Bauch vollschlagen. "Meine Damen und Herren", rufen sie, "wir schweben im leeren Raum!" Aber keiner der Menschen unten im Fell interessiert sich für das Geschrei der Philosophen. "Himmel, was für Krachschläger", sagen sie. Und dann reden sie weiter wie bisher: Kannst du mir mal die Butter geben? Wie hoch stehen heute die Aktien? Was kosten die Tomaten? Hast du gehört, daß Lady Di wieder schwanger sein soll?

Aus Jostein Garder, Sofies Welt (1991)


Illustration: YACKFOU

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